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Fressen und gefressen werden

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Mit Raupen aus Knete lernen Schüler Nahrungsketten in der Natur kennen – ein Experiment in acht Ländern

Fressen und gefressen werden

Gut gezwirbelt: Dorothea Schiesser bringt die Raupe an einem Ast an. Foto: Jürgen Gocke

Wie verhalten sich pflanzenfressende Tiere und ihre Feinde? Das haben 400 Schülerinnen und Schüler aus ganz Europa in einem Citizen-Science-Projekt ermittelt. Unter ihnen: eine elfte Klasse des Montessori Zentrum ANGELL in Freiburg. Um Rotkehlchen, Ameise und Eidechse auf die Schliche zu kommen, haben die Schüler Knetraupen in Eichen versteckt und Spuren gelesen, die die Tiere an ihnen hinterlassen haben. Ein Besuch an einem Baum im Freiburger Rieselfeld.


Annette Schuck und ihr Biologiekurs haben den Baum schon vor einer Weile ausgewählt. Die Gruppe vom Montessori Zentrum ANGELL in Freiburg blickt zur Krone einer jungen Eiche empor, die an einem asphaltierten Feldweg im Rieselfeld zwischen Efeu und Gestrüpp steht. Die Schüler der elften Klasse sind mit ihrer Wahl zufrieden. Leyla Strub kramt eine rote Metalldose aus ihrer Tasche und lässt sich im Schneidersitz auf dem Feldweg nieder. Ihre Mitschüler klappen eine Leiter auf und rücken sie auf dem unebenen Boden zurecht.

„Ist die so richtig?“ Leyla nimmt eine kleine grüne Knetwurst aus der Dose und dreht sie zwischen Zeigefinger und Daumen. „Sebastian, gib ihr mal die Unterlagen. Da sind Bilder drin, wie die Raupen aussehen müssen“, sagt Lehrerin Schuck. Die Schüler sind an diesem Freitagmittag mit Aufregung und Ernst bei der Sache. Alles muss stimmen, wenn sie ihre Daten erheben. So ist das eben in der Wissenschaft. Die Jugendlichen gehören zu 400 Schülern in acht europäischen Ländern, die in einem Projekt Daten zum so genannten Fraßdruck bei Eichen sammeln.

Spuren lesen wie Forschende

Wie interagieren pflanzenfressende Tiere und deren Feinde miteinander? Um dies herauszufinden, bringen die Schüler Raupen aus Knete an den Ästen an. Zwei und vier Wochen nachdem sie die Attrappen an der Eiche montiert haben, werden sie dorthin zurückkehren und das Ergebnis begutachten. Haben Vögel in die Knete gepickt, weil sie auf echte, essbare Schmetterlingsraupen hofften? Oder haben Insekten ihre Fresswerkzeuge in die Masse gebohrt?


Die in der Knete hinterlassenen Spuren geben Aufschluss darüber, wie viele und welche Tiere sich an dem Baum getummelt haben. In Frage kommen zum Beispiel Rotkehlchen, die auf eine essbare Schmetterlingsraupe gehofft haben. Fotos: fotomaster/Fotolia

Die in der Knete hinterlassenen Spuren geben Aufschluss darüber, wie viele und welche Tiere sich an dem Baum getummelt haben. Das hängt von den klimatischen Bedingungen ab. Forscherinnen und Forscher werden die Ergebnisse der Schulklassen nutzen, um herauszufinden, wie sich Insektenfraß, die Angriffe durch Räuber und die chemische Abwehr, die die Eichen dagegen einsetzen, in verschiedenen Regionen darstellen.

„Die Knetraupen sind keine Spielerei, die für die Schulklassen entwickelt wurde. Die Methode wird tatsächlich in der Wissenschaft angewendet“, erklärt Prof. Dr. Michael Scherer-Lorenzen von der Universität Freiburg. „Der Ansatz eignet sich, um Aktivitäten von Tieren zu messen, die man nicht dauernd beobachten kann.“ Ein Kollege in Frankreich hatte die Idee zu dem Projekt, und der Geobotaniker Scherer-Lorenzen war davon so überzeugt, dass er verschiedene Schulen in der Region Freiburg mit ins Boot holte. „Die Schüler lernen dabei, wie man Daten nach einem standardisierten Protokoll erfasst. Die Klassen müssen nachvollziehbar und exakt arbeiten, damit die Ergebnisse auch einen wissenschaftlichen Wert haben.“

App statt Maßband

Doch bevor die Freiburger Schüler die ersten Ergebnisse verkünden können, haben sie mit einigen Startschwierigkeiten zu kämpfen. Jemand hat das Maßband im Klassenzimmer liegen lassen, mit dem die Schüler den Umfang des Baumstamms messen wollten. Sebastian Walker weiß sich zu helfen. Er lädt sich eine App auf sein Handy, mit der man Maß nehmen kann. „Ihr dürft das nicht ungefähr machen, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten schließlich auch genau“, mahnt Schuck.

Sebastian nimmt einen der Kabelbinder, die die Klasse mitgebracht hat. Sie dienen dazu, die Äste zu markieren, an denen die Schüler Raupen angebracht haben – jeweils vier Stück an fünf Ästen sollen es später sein. Sebastian bestimmt mit seinem Handy die Länge des Kabelbinders und schreitet anschließend mit diesem einmal um den Baum.


Die Schüler haben von dem Forscherteam genaue Anweisungen erhalten, wie die Raupen im Baum angebracht werden. Foto: Jürgen Gocke

Über den angrenzenden Weizenfeldern türmen sich mittlerweile Gewitterwolken auf. Die Luft steht. Ein Mückenschwarm tänzelt über den Köpfen der Schüler. Dorothea Schiesser hat sich den Ordner mit den Anweisungen für das genaue Vorgehen geschnappt und legt los. „Müssen das kleine oder große Äste sein?“ Ratlosigkeit in der Gruppe. Dorothea klettert auf die Leiter, biegt einen Ast herunter und zwirbelt den Draht, an dem die Raupe klebt, fest. „Ich bin so was von Forscher!“, sagt sie und lacht. Sie ist mit ihrer ersten wissenschaftlichen Tat zufrieden, zückt ihr Handy und macht noch schnell ein Selfie von sich und der Eiche.

Verlässliche Ergebnisse durch Feldforschung

Die Bissspuren werden die Schüler zwei Wochen später zum ersten Mal zählen und fotografieren. Ihre Daten tragen sie anschließend in ein Formular ein. Bevor sie es nach Abschluss des Projekts an eine Doktorandin in Frankreich schicken, die die Ergebnisse auswertet, werden sie sich selbst an einer Analyse versuchen. Anhand der Spuren sollen sie bestimmen, welche Tiere ihre Raupen angegriffen haben, und sich anschließend überlegen, wie sich die Daten visualisieren lassen.

„Viele denken, dass die Wissenschaft immer nur mit riesigen Maschinen und teuren Geräten arbeitet“, sagt Scherer-Lorenzen. Diesem Vorurteil will er mit dem Projekt entgegentreten und den Schülern nahebringen, dass auch die Feldforschung verlässliche Ergebnisse liefert. „Für die Schüler ist es wiederum eine schöne Erfahrung, dass sie als Teil einer 400-köpfigen Gruppe aus ganz Europa an einem Projekt arbeiten können.“

Sonja Seidel

 

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